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2.2 Aspekte der Männlichkeit

2.2.3 Aspekt der Sexualität

Ab dem späten 19. Jahrhundert war und ist noch immer die Rolle der Sexualität in Bezug auf beide Geschlechter ein wichtiger Aspekt. Die Rolle des Geschlechtsverkehrs hat sich in der Geschichte oft verändert. In der Zeit, in der das Drama geschrieben wurde, diente Geschlechtsverkehr offiziell nur der Kinderzeugung, wobei sich diese Scheinheiligkeit teilweise in einer geringeren Rigidität noch bis in die 1960er Jahre hinzog, als es dann zu einer Revolution der sexuellen Freiheit kam.27 Ihr Einfluss zieht sich bis in die heutige sexuell sehr liberale Zeit, in der auch die Machtposition des Mannes, dessen Rolle im Bett traditionell eher dominant war, oft eine eher passivere Rolle einnimmt. Es ist allgemein bekannt, dass die viktorianische Zeit in England eine sexuell sehr unterdrückte Periode war und dasselbe gilt auch für die Wilhelminische Zeit in Deutschland.28 Gerade diese sexuelle Unterdrückung führte dann andererseits zum Aufschwung der Sexualität sowohl in der Literatur als auch in anderen Bereichen des Lebens, ganz im Sinne, dass die verbotene Frucht am süßesten schmeckt. Beim Thema Männlichkeit und Sex soll auf jeden Fall auch die Prostitution erwähnt werden. So kann auch hier eine Art der Machtausübung und der Machtposition der Männlichkeit über die Frau gefunden werden, obwohl sich hier die Rollen auch umdrehen

25 Toni Tholen (2015) Deutschsprachige Literatur. In: Stefan Horlacher/Bettina Jansen/Wieland Schwanebeck (Hrsg.) Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 278.

26 Vgl. Julia Decker: Die Männer werden dann weich. In: Kopfsache. Erhältlich unter:

https://www.fluter.de/sites/default/files/kopfsache.pdf (Zugriffsdatum: 1.5.2021).

27 Vgl. Bettina Baumann: Freiheit oder neue Zwänge? 50 Jahre sexuelle Revolution. Erhältlich unter:

https://p.dw.com/p/33GI4 (Zugriffsdatum: 1.5.2021).

28 Kaiser Wilhelm II war der älteste Enkelsohn der englischen Königin Viktoria, was eine ähnliche Haltung zur Frage der Sexualität also nicht verwunderlich macht.

können und eine Prostituierte für den Mann nicht nur eine Femme fragile sein muss, sondern sich auch als eine Femme fatale entpuppen kann. Die Macht der Frau über den Mann kann gerade in diesem sexuellen Segment gut beobachtet werden, was auch im behandelten Drama dargestellt wird.

3 Analyse der Figuren im Drama Reigen

Im Drama treten zehn Figuren in zehn Dialogen auf, fünf Frauen und fünf Männer. Die weiblichen Figuren sind die Dirne, das Stubenmädchen, die junge Frau, das süße Mädel und die Schauspielerin, die männlichen Figuren sind aber der Soldat, der junge Herr, der Gatte, der Dichter und der Graf. Wenn man die Figuren in gesellschaftliche Schichten unterteilt, merkt man, dass sich die Dirne und das süße Mädel ganz unten auf der Gesellschaftsleiter befinden, etwas höher kommt dann das Stubenmädchen. Sie hat eine Arbeit, die zwar kein großes Ansehen hat und mit der sie nicht viel verdient, die aber gesellschaftlich trotzdem akzeptabel ist, im Gegensatz zu den ersten zwei weiblichen Figuren, die ihren Körper und Geschlechtsverkehr für Geld anbieten. Es folgen die junge Frau und die Schauspielerin, die beide Teil des Bürgertums sind. Die junge Frau kommt aus einem guten Haus, die Schauspielerin hingegen ist sehr angesehen und berühmt. Diese Berühmtheit und der damit verbundene Einfluss macht sie auch zu der Frauenfigur, die am höchsten auf der Gesellschaftsleiter steht. Die Rangierung der männlichen Figuren andererseits ist etwas klarer.

Den untersten Platz belegt der Soldat. Obwohl er einen passablen Beruf hat, ist er trotzdem dem jungen Herrn nicht übergeordnet. Es folgt der Gatte, der so wie der junge Herr Teil des Bürgertums ist. Dennoch ist der Gatte dem jungen Herrn übergeordnet, da in einer patriarchalen Gesellschaft Alter und Einfluss eine große Rolle spielen. Der Dichter ist wegen seiner Berühmtheit und des damit verbundenen Einflusses nur dem Grafen, dem Vertreter des Adels, untergeordnet.

Versucht man jetzt eine Rangierung aller Figuren zu machen, so sieht man, dass die Dirne und das süße Mädel natürlich auch in dieser Rangierung den untersten Platz auf der gesellschaftlichen Leiter belegen. Es folgt das Stubenmädchen als Vertreterin der Arbeiterklasse. Bei den nächsten zwei Figuren ist die Rangierung schon schwieriger. Die junge Frau ist Teil des Bürgertums, wohingegen der Soldat nur ein normaler Soldat ist, kein Offizier. Trotzdem ist der Soldat ein Mann und hat als solcher in der Gesellschaft doch mehr Macht. Man könnte also argumentieren, dass der Soldat sogar der jungen Frau in gewisser Hinsicht gesellschaftlich übergeordnet ist. Wenn man aber so argumentiert, dann müsste man den Soldaten auch höher als die berühmte Schauspielerin stellen. Es ist also angebrachter, die junge Frau höher auf der gesellschaftlichen Leiter zu stellen als den Soldaten, aber doch niedriger als den jungen Herrn. Obwohl der junge Herr nicht aus einem so guten Hause kommt wie die junge Frau, ist er ihr auf der gesellschaftlichen Leiter trotzdem übergeordnet.

Als nächste Figur würde man den Gatten einordnen, da er auch dem Bürgertum angehört, jedoch etwas älter ist und aus einem besseren Haus stammt. Das kann man aus dem Ende des Dialoges, in dem der junge Herr und die junge Frau auftreten, schlussfolgern, wo der junge Herr meint, dass er jetzt ein Verhältnis mit einer richtigen Frau habe.29 Das lässt vermuten, dass die junge Frau mindestens aus einem so guten Haus kommt wie er. Als nächste Person auf der Leiter kommt die Schauspielerin. Obwohl der junge Herr und der Gatte ihr als Männer übergeordnet sein könnten, ist die Schauspielerin berühmt und angesehen, hat eine gesellschaftliche Macht und besitzt Einfluss, der sie den beiden übergeordnet macht. Der bekannte Dichter kommt als nächste Person und an der Spitze der gesellschaftlichen Leiter steht der Graf, der einerseits ein Offizier ist und andererseits dem Adel angehört und als solcher in zwei Hinsichten eine hohe Position einnimmt.

Wenn man die Figuren im Drama in Bezug auf die gesellschaftlichen Strukturen isoliert betrachtet, kann man feststellen, dass die männliche Figur mit dem theoretisch niedrigsten gesellschaftlichen und sozialen Stand, also der Soldat, trotzdem mindestens drei Frauen übergeordnet ist. Man kann aber trotzdem schwer behaupten, dass der Soldat den anderen zwei Frauen übergeordnet ist. Es war nämlich so, dass gewöhnliche Soldaten meist die Armee als Flucht vor der Armut wählten, wenn man die allgemeine Wehrpflicht bei Seite lässt. Es war zwar eine gefährliche Flucht, da Kriege und Konflikte in dieser Zeit viel häufiger waren als heute, wo man in Europa ab dem Zweiten Weltkrieg, mit Ausnahme der Jugoslawienkriege und des Ukrainekriegs, keine größeren Kriege hatte, aber man hatte als Soldat trotzdem etwas zum Essen, ein Dach über dem Kopf und eine soziale Sicherheit, die man sonst nicht hätte. Männer aus den hohen Schichten waren meist keine gewöhnlichen Fußsoldaten, sondern wurden direkt in einen höheren, gemütlicheren Rang befördert und für sie war die Wehrpflicht oft auch angepasst und verkürzt.30 Man kann also auch in dieser komplett männerdominierten Sphäre des Militärs sehen, dass die Machtposition sehr wichtig ist. Obwohl das Militär als ein Ort dienen sollte, wo man seine Männlichkeit unter Beweis stellt und seine Ehre, Tapferkeit und seinen Willen zeigt, waren die Bedingungen nicht gleich für alle. Wenn man aus einer Position der Macht kam, erhielt man meist auch sofort eine Position der Macht. Die Gesellschaftsstrukturen der Welt wurden also auch in dieser Parallelwelt des Militärs beibehalten. Wie schon im theoretischen Teil erwähnt, hat sich die

29 Vgl. Arthur Schnitzler (1996): Reigen. In: Ders.: Reigen. Liebelei. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 23–102, hier S. 50. Im Folgenden im Fließtext mit dem Sigel R und Seitenzahl zitiert.

30 Benjamin Ziemann: Militärgeschichte. Perspektiven auf Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert.

Erhältlich unter: https://www.bpb.de/apuz/307656/militaer-und-gesellschaft-im-19-und-20-jahrhundert (Zugriffsdatum: 10.2.2021).

Gesellschaft damals sehr an der Armee orientiert und auch Freizeitbekleidung schöpfte Inspiration aus Uniformen.31 Das trotzdem zwei oder drei der fünf Frauen den Soldaten zumindest auf der Gesellschaftsleiter untergeordnet sind, ist wahrscheinlich kein tiefgreifender absichtlicher sozialkritischer Plan des Autors, sondern einfach ein Abbild der gesellschaftlichen Strukturen der damaligen Zeit. Man muss hierbei aber trotzdem anmerken, dass das Drama in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts spielt. Als das Drama also entstand, hatten die Frauen noch kein Wahlrecht, dieses bekamen sie in Österreich erst 1918.32 Man könnte also behaupten, dass alle Frauen im Drama auch dem Soldaten in einigen Aspekten untergeordnet sind. Wie bereits erwähnt, geht es beim Männerdiskurs auch um die sozialen Strukturen der Macht. Der Soldat hatte als Mann, der theoretisch wählen konnte, mit seiner Stimme also Macht bei Entscheidungen, die im Nachhinein auch die Frauen ‒ die ihm auf der sozialen Gesellschaftsleiter zwar überlegen sind ‒ beeinflussten. Schon bei dieser einleitenden kurzen Analyse der gesellschaftlichen Strukturen kann man also sehen, wie komplex das Thema ist und aus wie vielen Positionen man es betrachten kann. Es kann aber auch bemerkt werden, wie ungleichgewichtig die Macht verteilt ist. Fast die ganze gesellschaftliche Macht im Drama liegt also in den Händen der Männer, obwohl auch einige der Frauen vor allem eine verführerische Macht im sexuellen Sinne haben.

Die verführerische Macht der Frauen in diesem Drama ist jedoch nicht als ein Motiv der Sirenen, welche in alten griechischen Legenden die Männer in ihr Verderben locken, vorgestellt, vielmehr ist es eine sexuelle Begehrung der Männer, die im Einzelnen noch später beschrieben wird. Gerade diese Begehrung und Untreue, die damals wie heute vorkam, damals jedoch als ein noch größeres und schlimmeres Tabu galt, stellt etwas dar, was sich für sittliche Bürger einfach nicht gehörte. Der freie Wechsel von Liebespartnern und die Affären waren für die damalige Gesellschaft, und sind es teils immer noch, ein sehr kontroverses Thema. Schon der Titel selbst ist eine Anspielung an den spielhaften Wechsel der Teilnehmer.

Reigen bedeuten Duden zufolge nämlich einen „von Gesang begleiteter [Rund]tanz, bei dem eine größere Zahl von Tänzerinnen und Tänzern [paarweise] einem Vortänzer und Vorsänger schreitend oder hüpfend folgt“33 und so folgen die Tänzer, also die Figuren im Drama, einander und wechseln die Partner in einem Tanz der Liebe, Begehrung und Lust. Es ist gerade dieser sexuelle Aspekt mit dem Motiv vom Rundtanzwechsel, den Schnitzler genial

31 Vgl. Karin Tebben (2002): Männer männlich? Zur Fragilität des ,starken‘ Geschlechts. In: Karin Tebben (Hrsg.): Abschied vom Mythos Mann. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 9.

32 http://www.demokratiezentrum.org/themen/demokratieentwicklung/frauenwahlrecht.html (Zugriffsdatum:

10.2.2021).

33 Stichwort: Reigen, der. In: Duden-Online. Erhältlich unter:

https://www.duden.de/node/120099/revision/120135 (Zugriffsdatum: 12.7.2021).

nutzt um die Ketten der Gesellschaft zu zerreißen und ihr einen Spiegel vorzuhalten. Die schönen Fassaden und Sitten sind nur Täuschungen, welche die Macht der Gesellschaft verlangt. In der Begehrung und Lust sind sich aber alle, arm und reich, Dirne und Graf, gleich.

Als letztes wäre noch die Abwesenheit von Eigennamen bei der Benennung der Figuren zu erwähnen, obwohl man einige Namen im Laufe der Dialoge erfährt. Diese Abwesenheit hat zweierlei Gründe. Der erste Grund ist, dass die Figuren dadurch an Individualität verlieren und austauschbar sind. Die Repräsentation vom Soldaten Franz ist also nicht nur spezifisch für diese eine Figur, sondern als eine allgemeine Repräsentation der gesellschaftlichen Schicht. Dass der Autor die Figuren nur mit den gesellschaftlichen Schichten und Berufen benennt, ist also eine Kritik an der ganzen Gesellschaft. Der zweite Grund ist inhaltlicher und bezieht sich auf den Titel des Dramas. Im Wechseltanz weiß man nicht, mit wem man alles tanzen wird und das gleiche lässt sich für die Figuren feststellen, die mit ihrem „sexuellen Wechseltanz“ auch auf verschiedene neue sexuelle Partner treffen, welche sie oft nicht kennen, und diese dann in dem nächsten Dialog wieder wechseln.